Glück oder Unglück, wer weiß das schon?
Unsere inneren Überzeugungen sind wie Brillen oder Wahrnehmungsfilter, die unsere gesamte Sicht auf unser Leben eintönen und dazu führen, dass wir immer nur einen kleinen Aussicht der Welt erfassen können, auch wenn unser Verstand uns weiß zu machen versucht, die ganze Wahrheit zu sehen. Eine alte Parabel aus China beschreibt das ganz schön in der kleinen Geschichte über einen alten Bauer….
Glück oder Unglück, wer weiß das schon?
Eine alte Parabel aus China
Im alten China lebte einst ein armer alter Bauer, dessen einziger Besitz ein
wundervoller weißer Hengst war. Selbst der Kaiser träumte davon, dieses Pferd
zu besitzen. Er bot dem Alten Säcke voller Gold und Diamanten, doch der Alte
schüttelte beharrlich den Kopf und sagte: “Mir fehlt es an nichts. Der Schimmel
dient mir seit vielen Jahren und ist mir zum Freund geworden. Und einen Freund
verkauft man nicht; nicht für alles Geld der Welt.” Und so zogen die Gesandten
des Kaisers unverrichteter Dinge wieder ab.
Die Dorfbewohner lachten über soviel Unvernunft. Wie konnte der Alte bloß
wegen eines Pferdes soviel Reichtum und Glück ausschlagen?
Eines Morgens war das Pferd verschwunden. Die Dorfbewohner liefen aufgeregt
vor dem leeren Stall zusammen, um das Unglück des alten Bauern zu beklagen.
“Sag selbst, Alter, hat sich deine Treue gelohnt? Du könntest ein reicher Mann
sein, wenn du nicht so eigensinnig gewesen wärst. Jetzt bist du ärmer als zuvor.
Kein Pferd zum Arbeiten und kein Gold zum Leben. Ach, das Unglück hat dich
schwer getroffen.”
Der alte Bauer blickte bedächtig in die Runde, nickte nachdenklich und sagte:
“Was redet ihr da? Das Pferd steht nicht mehr im Stall, das ist alles, was ich
sehe. Vielleicht ist es ein Unglück, vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon so
genau?” Tuschelnd gingen die Leute auseinander. Der Alte musste durch den
Schaden wirr im Kopf geworden sein. Anders ließen sich seine Worte nicht
erklären.
Einige Tage später, es war ein warmer, sonniger Frühlingstag und das halbe Dorf
arbeitete in den Feldern, stürmte der vermisste Schimmel laut wiehernd die
Dorfstraße entlang. Die Sonne glänzte auf seinem Fell, und Mähne und Schweif
flatterten wie feinste Silberfäden im Wind. Es war ein herrlicher Anblick, wie er
voller Kraft und Anmut daher galoppierte. Doch das war es nicht allein, was die
Dörfler erstaunt die Augen aufreißen ließ. Noch mehr Staunen riefen die sechs
wilden Stuten hervor, die hinter dem Hengst her trabten und ihm in die offene
Koppel neben dem leeren Stall folgten.
“O du glücklicher, von den Göttern gesegneter Mann! Jetzt hast du sieben Pferde
und bist doch noch zum reichen Mann geworden. Bald wird Nachwuchs deine
Weiden füllen. Wer hätte gedacht, dass dir noch einmal soviel Glück beschieden
wäre?” riefen sie, während sie dem alten Mann zu seinem unverhofften Reichtum
gratulierten.
Der Alte schaute gelassen in die aufgeregte Menge und erwiderte: “Ihr geht zu
weit. Sagt einfach: Jetzt hat er sieben Pferde. Ob das Glück bringt oder Unglück,
niemand weiß es zu sagen. Wir sehen immer nur Bruchstücke, wie will man da
das Ganze beurteilen. Das Leben ist so unendlich vielfältig und überraschend.”
Verständnislos hörten ihm die Leute zu. Die Gelassenheit des Alten war einfach
unbegreiflich. Andererseits war er schon immer etwas komisch gewesen. Na ja,
sie hatten andere Sorgen.
Der alte Bauer hatte einen einzigen Sohn. In den folgenden Wochen begann er
die Wildpferde zu zähmen und einzureiten. Er war ein ungeduldiger, junger Mann,
und so setzte er sich zu früh auf eine der wilden Stuten. Dabei stürzte er so
unglücklich vom Pferd, dass er sich beide Beine mehrfach brach. Obwohl die
Heilerin ihr Bestes tat, war allen klar, dass seine Beine nie wieder ganz gesund
werden würden. Für den Rest seines Lebens würde er ein hinkender, behinderter
Mann bleiben.
Wieder versammelten sich die Leute vor dem Haus des Alten. “O du armer, alter
Mann!” jammerten sie, “nun entpuppt sich dein Glück als großes Unglück. Dein
einziger Sohn, die Stütze deines Alters, ist nun ein hilfloser Krüppel und kann dir
keine Hilfe mehr sein. Wer wird dich ernähren und die Arbeit tun, wenn du keine
Kraft mehr hast? Wie hart muss dir das Schicksal erscheinen, das dir solches
Unglück beschert.”
Wieder schaute der Alte in die Runde und antwortete: “Ihr seid vom Urteilen
besessen und malt die Welt entweder schwarz oder weiß. Habt ihr noch immer
nicht begriffen, dass wir nur Bruchstücke des Lebens wahrnehmen. Das Leben
zeigt sich uns nur in winzigen Ausschnitten, doch ihr tut, als könntet ihr das
Ganze beurteilen. Tatsache ist, mein Sohn hat beide Beine gebrochen und wird
nie wieder so laufen können wie vorher. Lasst es damit genug sein. Glück oder
Unglück, wer weiß das schon.”
Nicht lange danach, rüstete der Kaiser zum großen Krieg gegen ein Nachbarland.
Die Häscher ritten durchs Land und zogen die Väter und Söhne zu Kriegsdiensten
ein. Das ganze Dorf war von Wehklagen und Trauer erfüllt, denn alle wussten,
dass die meisten Männer aus diesem blutigen und aussichtslosen Krieg nicht
mehr heimkehren würden.
Wieder einmal liefen die Dorfbewohner vor dem Haus des alten Bauern
zusammen: “Wie recht du doch hattest. Jetzt bringt dein verkrüppelter Sohn dir
doch noch Glück. Zwar wird er dir keine große Hilfe mehr sein können, aber
wenigstens bleibt er bei dir. Wir sehen unsere Lieben bestimmt nie wieder, wenn
sie erst einmal in den Krieg gezogen sind. Dein Sohn aber wird bei dir sein und
mit der Zeit auch wieder mithelfen können. Wie konnte nur ein solches Unglück
über uns kommen? Was sollen wir nur tun?”
Der Alte schaute nachdenklich in die Gesichter der verstörten Leute, dann
erwiderte er: “Könnte ich euch nur helfen, weiter und tiefer zu sehen, als ihr es
bisher vermögt. Wie durch ein Schlüsselloch betrachtet ihr das Leben, und doch
glaubt ihr, das Ganze zu sehen. Niemand von uns weiß, wie sich das große Bild
zusammensetzt. Was eben noch ein großes Unglück scheint, mag sich im
nächsten Moment als Glück erweisen. Andererseits erweist sich scheinbares
Unglück auf längere Sicht oft als Glück, und umgekehrt gilt das gleiche. Sagt
einfach: Unsere Männer ziehen in den Krieg, und dein Sohn bleibt zu Hause. Was
daraus wird, weiß keiner von uns. Und jetzt geht nach Hause, und teilt die Zeit
miteinander, die euch bleibt.”